Digitale Exzellenz
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Industrie 4.0 und Klimaschutz sind ein gutes Team

, 20. Dezember 2021

Lesezeit: 7 Minuten

Industrie 4.0 und Klimaschutz sind ein gutes Team

Die deutsche Industrie muss ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um rund 20 Prozent senken. Das ergibt sich aus den Zielen des Klimaschutzgesetzes. Nun sind Strategien gefragt. Die Wissenschaft gibt drei Leitansätze vor, zwei davon bedeuten teilweise schmerzhafte Veränderungen. Der Umbau zu einer Industrie 4.0 kann helfen, die Transformationsbereitschaft zu steigern.

Industrieunternehmen spüren den Transformationsdruck von zwei Seiten. 2024 werden sie Umweltziele, gesellschaftliche und Governance-Aspekte berichtspflichtig reporten müssen. So steht es in der EU-Richtlinie Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD). Hinzu kommt der Druck des Marktes: Verbraucherinnen und Verbraucher kaufen zunehmend Öko-Produkte, gleichzeitig boomen so genannte Greentechs. Weltweit wird der Markt für Umwelttechnik und Ressourceneffizienz von 4.600 im Jahr 2020 auf 9.400 Milliarden Euro im Jahr 2030 anwachsen, so das Bundesumweltministerium. Das entspricht einem jährlichen Wachstum von 7,3 Prozent. Banken leiten Kapitalströme zudem gezielt in nachhaltige Unternehmen. Firmenkunden der Commerzbank, die aktuell mindestens 20 Prozent ihres Umsatzes oder ihrer Stromerzeugung mit Kohle erzielen, sollen bis 2025 einen Plan für den Kohleausstieg bis 2030 erarbeiten.

Drei Leistrategien für klimafreundliches Produzieren

Mit dem wachsenden Druck suchen Industrieunternehmen verstärkt nach passenden Transformationsstrategien. Drei Leitstrategien, die u.a. vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (ITZ) erörtert wurden, bieten Hebel, an denen sie ansetzen können

  1. Effizienz zielt auf einen geringstmöglichen Einsatz von Material und Energie ab.
  2. Bei Konsistenz geht es um ressourcen- und umweltverträgliche Stoffströme.
  3. Suffizienz richtet sich auf einen insgesamt geringeren Ressourcenverbrauch, unter anderem durch eine generelle Verringerung des Angebots an Gütern.
Quelle: https://www.izt.de/fileadmin/publikationen/IZT_Text_1-2018_EKS.pdf

Die drei Strategien ergänzen sich und hängen gegenseitig voneinander ab. Zudem fordern sie eine unterschiedliche Transformationsbereitschaft von Unternehmen. Effizienz ist der angenehmste Schritt für die Industrie in Richtung Nachhaltigkeit. Es geht um mengenmäßige Optimierung, etwas, was in der Industrie genetisch verankert ist. Konsistenz verlangt bereits mehr Veränderung. Industrieunternehmen müssen ihre Produktion so anpassen, dass sich der Ressourcenverbrauch qualitativ ändert, beispielsweise durch Cradle-to-Cradle-Ansätze oder den Umstieg auf Sonnen- und Windkraftenergie. Und Suffizienz stellt gewissermaßen einen Bruch mit dem bisherigen Paradigma des unendlichen Wachstums dar.

Effizienz: Lean & Green mit digitalem Zwilling

Um für alle drei Leitstrategien eine möglichst große Transformationsbereitschaft zu erreichen, braucht es Lösungen. Voraussetzung ist zunächst die Anpassung der klassischen Lean-Production-Methoden. Denn eine maximal schlanke Wertschöpfungskette ist nicht automatisch die, mit dem besten CO2-Fußabdruck. Für eine nachhaltige Produktion braucht es deshalb angepasste Kennzahlensysteme, in die Umweltaspekte einfließen. Die Fabrik von morgen sollte darauf ausgelegt sein, Produkte mit geringstmöglichem Einsatz an Energie, Material und Rohstoffen, Wasser und Verkehr herzustellen.

Einen technologischen Effizienzhebel bieten Industrie-4.0 -Ansätze. Die automatisierte Zustandsüberwachung von Maschinen, Produkten, Gebäude, Fahrzeuge in Echtzeit mittels Sensoren hilft, die Menge verbrauchter Ressourcen signifikant nach unten zu drücken. Auf Basis von Daten wie Temperaturen, Schwingungen oder Verbrauchswerten wie Strom, Wasser, Hilfs- und Betriebsstoffen und CO2 entsteht ein digitaler Zwilling, mit dessen Hilfe Betriebszustände ermittelt werden. Darüber hinaus können durch Prognosen und Simulationen Ausfallwahrscheinlichkeiten oder Ressourcenschwankungen ermittelt werden. Auf diese Weise können Unternehmen eingrenzen oder sogar vorhersagen, wann Anlagen und Maschinen verschlissen sind. Sie können damit rechtzeitig Teile austauschen, bevor die ganze Maschine erneuert werden muss. Das senkt im Nettoergebnis den realen Verbrauch von Ressourcen und Energie.

Was für die Herstellung gilt, muss auch für das Produkt selbst gelten

Wichtig ist, dass Unternehmen die Effizienzstrategie über den Herstellungsprozess hinaus im gesamten Produktlebenszyklus ausrollen. Es reicht nicht, wenn Produkte effizient hergestellt werden, sie in der Nutzung dann Unmengen Energie und andere Ressourcen benötigen. Energieeffizienz ist nicht nur beim Fernseher oder der Waschmaschine eine kaufentscheidende Produkteigenschaft. Einkäufer industrieller Maschinen und Anlagen achten ebenso auf die entsprechende A++-Plakette, und sie erwarten smarte Produktfeatures, mit denen sich Verbräuche messen und optimieren lassen. Sprich: Es braucht einen digitalen Zwilling für den Kunden. Für klassische Produkthersteller bedeutet dies nichts weniger als die Weiterentwicklung zum Anbieter digitaler Services.

Konsistenz: Mithilfe von Datenströmen Kreisläufe schließen

Auch eine effiziente Ressourcennutzung stößt irgendwann an ihre ökologischen und technologischen Grenzen. Deshalb müssen Stoffströme radikaler umgedacht werden – von linear zu zirkulär. So entstehen Stoffkreisläufe, in denen recycelte und aus Abfällen gewonnene Sekundärrohstoffe genutzt werden und keine Schadstoffemissionen entstehen. Voraussetzung dafür ist ein ganzheitlicher Ansatz über den gesamten Produktlebenszyklus. Die Kreislauffähigkeit wird schon in der Entwicklungsphase von Produkten mitgedacht und integriert, der Nutzungszeitraum wird vergrößert und die Wiederverwertbarkeit sicherstellt.

Das gelingt nur, wenn Stoffströme durch digitale Informationsströme begleitet werden, z.B. wenn Produkte ihre stoffliche Zusammensetzung oder Verwertbarkeit als digitale Visitenkarte mit sich tragen. Produkte können ihre Eigenschaften durch sensorisch auslesbare Informationsträger auf diese Weise an weitere Systeme weitergeben. Mit modernen Manufacturing-Execution-Systemen ist es beispielsweise möglich, Abfälle als Recyclingmaterial zu taggen und so steuern, dass sie wiederverwertet werden können.

Eine Industrie 4.0 schafft somit Transparenz über Qualität und Quantität von Stoffen. Diese ermöglicht es wiederum, die Reverse-Supply-Chain zu planen, d.h. den Logistikprozess vom Abfallort über Recyclinganlage bis hin zum Wiederverkauf zu gestalten. Ohnehin ist die Distribution so genannter Rezyklate eines der großen Potenziale, die es zu heben gilt: Bis dato ist die Informationslücke bzgl. der Beschaffung und Verwendung von wiederverwertbaren Werkstoffen sehr groß. Mit digitalen Plattform- und Marktplatz-Ansätzen wie z.B. Cirplus lassen sich ganz neue Geschäftsfelder erschließen.

Nicht nur Materialien: Auch bei Energie muss umgedacht werden

Das Bild vom Energie-„Prosumer“– sprich selbst zum Energieerzeuger für sich und andere zu werden – sollte das zentrale Paradigma für produzierende Unternehmen werden. Hierbei spielt insbesondere das Rückgewinnen von Energie eine Rolle. Ein prominentes Beispiel ist die vielfach entstehende Industriewärme. Anstatt diese nur entweichen zu lassen, kann sie genutzt werden, um eigene Gebäude und Anlagen energetisch zu versorgen. Der Metallhersteller Aurubis will auf diese Weise ganze Stadtquartiere versorgen und jährlich bis zu 20.000 Tonnen CO2 einsparen.

Suffizienz: Sharing is Caring

Suffizienz gilt als Strategie für die Wirtschaft, die dem Überverbrauch von Stoffen und Energie generell den Riegel vorschieben möchte. Kritiker sprechen häufig von Wachstumsbremse. Vielmehr sollte man Suffizienz jedoch als die Frage nach dem rechten Maß betrachten. Ergibt es Sinn, Produkte so zu konzipieren, dass sie nicht repariert werden können, nur damit neuer Absatz entsteht? Werden Maschinen gebraucht, die den Großteil ihrer Zeit nicht benutzt werden?

Eine Veränderung im Sinne der Suffizienz spielt insbesondere auf die Entwicklung von Sharing-Modellen an – sowohl in der Leistungserstellung als auch Leistungsangebot. In unserem Branchenkompass Manufacturing gaben beispielweise 57 Prozent der Befragten an, zukünftig freie Produktionskapazitäten gegen Bezahlung anzubieten. Hierbei spielen digitale Plattformen zur Vermittlung und Abrechnung solcher Kapazitäten als Dienstleistung eine zentrale Rolle. Sie ziehen Daten aus der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) und matchen diese mit der Nachfrage. Auf diese Weise werden Ressourcen und Kosten eingespart.

Intelligentes Energiemanagement spielt für die Suffizienz-Strategie eine wesentliche Rolle. Im Idealfall wird Energie nur dort zur Verfügung gestellt, wo sie gebraucht wird. Dazu benötigen Unternehmen und kommunale Anbieter Echtzeitdaten, die die Energieversorgung steuern. Genau das ermöglichen Smart Grids. Sie beziehen Daten aus intelligenten Stromzählern (Smart Meter) und verteilen Energieströme bedarfsgerecht im Netz. So wird sichergestellt Energie verschwendet und im Sinne der Suffizienz die Energiemenge bereitgestellt wird, die tatsächlich notwendig ist.

Industrie 4.0 ist ein nützlicher Hebel für mehr Nachhaltigkeit

Digitale Technologien und Daten können somit helfen, die drei Leitstrategien für nachhaltiges Wirtschaften – Effizienz, Konsistenz und Suffizienz – umzusetzen und es Unternehmen ein stückweit erleichtern, Investitionen auf den Weg zu bringen. Der Druck, Klimaziele zu erreichen, fördert womöglich die Transformation in Richtung einer Industrie 4.0 und umgekehrt. Beide sind in meinen Augen ein gutes Team.


Foto: Getty Images / Westend61