„Die Ausgangssituation muss bekannt und dokumentiert sein.“ So lautet das gängige Prinzip der Prozessoptimierung. Meine Kollegin, Anne Haug, und ich wollten wissen, ob eine Erhebung des „Wo kommen wir her?“ wirklich so nützlich ist, oder ob es Vorteile hat, direkt mit der Entwicklung des angestrebten Zielprozesses zu starten. Hier kommt unsere Abwägung.
Die drei Schritte „Ist-Prozess analysieren, Ist-Prozess optimieren und Soll-Prozess konzeptionieren“ entwickelten sich zum etablierten Vorgehen bei Digitalisierungsvorhaben. Dieser Dreisprung der Prozessoptimierung schaffte es zudem in die einschlägige Fachliteratur: „Unabhängig von jedem Digitalisierungsvorhaben bildet die Aufnahme, Aktualisierung und Visualisierung der Bestandsprozesse die notwendige Grundlage jeder Prozessoptimierung und -weiterentwicklung.“ So schreibt es Rupert Hiezer in seinem Standardwerk Prozessoptimierung 4.0.
In drei Schritten zum digitalen Soll-Prozess (Quelle: Sopra Steria)
Dabei stellte sich uns die Frage: Welche Gründe sprechen eigentlich dafür, zunächst die Ausgangssituation zu analysieren und zu optimieren, anstatt direkt an der Zukunft – dem neuen digitalen Prozess – zu arbeiten? Drei Vorteile haben wir identifiziert:
Vorteil 1: Transparenz zur Wirtschaftlichkeit
Ein Digitalisierungsvorhaben soll wirtschaftlich sein, und bei einer Wirtschaftlichkeitsbetrachtung wird Alt mit Neu (Ist und Soll) verglichen. Meist hängt dies unmittelbar mit einer Personalkalkulation zusammen. Folgende Fragen würden sich z.B. bei der Digitalisierung der Rechnungsbearbeitung stellen:
- Wie viele Minuten benötigt ein Unternehmen oder eine Behörde, um eine Papierrechnung zu bearbeiten, auszuzahlen und zu archivieren?
- Wieviel Zeit kann eingespart werden, wenn dieser Prozess digital abgebildet wird und ein IT-System die Rechnungsprüfung unterstützt?
- Wieviel Porto kann eingespart werden und wieviel Skontooptionen können wahrgenommen werden, die man heute verstreichen lässt aufgrund der langen Durchlaufzeiten?
All diese Fragen lassen sich nur im Vergleich zwischen Ist- und Soll-Prozess beantworten.
Vorteil 2: die richtigen Fragen stellen
Ausgehend vom Ist-Zustand, fällt die Konzeption eines optimalen digitalen Prozesses leicht, denn es ist Praxiserfahrung vorhanden. Diese hilft bei der Beantwortung folgender Fragen:
- Kann man auf Arbeitsschritte verzichten?
- Wo müssen Daten mehrfach erfasst werden?
- Muss die Reihenfolge der Arbeitsschritte geändert werden?
- Fehlen Informationen oder Anwenderhilfen, um den Arbeitsschritt effizient ausführen zu können?
Wenn Anwenderinnen und Anwender eingebunden sind und einbringen, was gut läuft und wo es klemmt, vereinfacht dies die Optimierungsaufgabe und fördert zugleich die Akzeptanz des späteren Ergebnisses.
Vorteil 3: rechtliche Absicherung
Der Ist-Prozess ist eventuell ineffizient, jedoch meist durch rechtliche Vorgaben so vorgeschrieben und damit abgesichert. Mit einer Orientierung am Ist-Prozess vermeiden Unternehmen oder Behörden umfangreiche Prüfungen der auf der grünen Wiese neu gestalteten Prozesse auf Rechtskonformität. Trotzdem sollten bestimmte Arbeitsschritte daraufhin geprüft werden, ob sie für einen rechtskonformen Prozess wirklich nötig sind. Oftmals ergeben sich aus Pfadabhängigkeiten in Kombination mit Risikoaversität viele doppelte Böden, die den Prozess unnötig aufblähen.
Die Gegenprobe – Prozessoptimierung ohne Ist-Prozess-Analyse
Trotz der Vorteile: Es lohnt, sich das Vorgehen zu hinterfragen und Alternativen auszuloten. Unsere These: Könnte man sich die Arbeit der Ist-Prozessaufnahme nicht sparen und unmittelbar den Zielzustand (Soll-Prozess) gestalten?
Wir haben diesen Ansatz bei der Digitalisierung der Rechnungserstellung ärztlicher Rechnungen gewagt und waren erfolgreich. Zunächst legten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes zusammen einen Prozessstartpunkt (z.B. Rechnung soll erstellt werden) sowie ein festes Ziel (z.B. Rechnung wurde digital versandt) fest.
Die zugehörigen Aktivitäten, wie Rechnungserstellung, Rechnungsprüfung und Rechnungsfreigabe, konnten ohne Restriktionen (z.B. organisatorische Zuständigkeiten, bereits vorhandene IT-Ausstattung, etc.) formuliert werden. Lediglich gesetzliche Vorgaben und rechtliche Rahmenbedingungen flossen in die Konzeption ein. Nach Sammlung aller Aktivitäten haben wir diese in eine Reihenfolge gebracht, geprüft und mit dem festgelegten Prozessziel abgeglichen.
Für eine Prozessoptimierung oder Digitalisierung ohne vorherige Ist-Analyse war es hilfreich, dass die Soll-Prozessaufnahme durch erfahrene und methodisch geschulte Prozessmanagerinnen und -manager mit fachlichem Know-how durchgeführt wurden. Das Vorgehen brachte uns dadurch drei entscheidende Vorteile ein, die sich auch auf andere Projektformate übertragen lassen:
Vorteil 1: geringerer Aufwand
Mit dem Verzicht auf die Ist-Prozess-Bewertung fällt einer von drei Bausteinen der Optimierung weg. Das spart Zeit und Kapazitäten. Insbesondere wenn auf eine Ist-Prozessaufnahme und -modellierung verzichtet wird, lässt sich der Aufwand eines Optimierungsprojekts signifikant verringern.
Vorteil 2: Loslösen von Altlasten
Sollte es in einem Unternehmen oder einer Behörde grundlegende Änderungen der Abläufe geben, ist es sinnvoller, auf einem weißen Blatt Papier anzufangen. Dies trifft insbesondere auf Digitalisierungsvorhaben wie die Einführung eines IT-Systems zu, bei denen zuvor komplett analog oder mit sehr funktionsbeschränkten IT-Systemen gearbeitet wurde. Der Grund liegt auf der Hand: Die Rahmenbedingungen ändern sich komplett. Ein intensives Herumdoktern am Ist-Prozesses erschwert die Arbeit des Projektteams, mit der Soll-Prozess-Konzeption voranzukommen.
Vorteil 3: Unvoreingenommene Soll-Prozessmodellierung
Ein weiterer Vorteil ist, dass die Stakeholder sowie die Nutzerinnen und Nutzer in ihren Funktionen und Denkweisen unvoreingenommen sind. Der Ist-Prozess beeinflusst nicht ihr Denken, wie es aus ihrer Sicht am besten laufen sollte. Der Soll-Prozess ist somit kein „Ist-Prozess Version 2“, sondern setzt sich aus neu erdachten Schritten und beteiligten Personen und Daten zusammen. Der Sollprozess orientiert sich somit an der Zukunft und baut nicht auf der Vergangenheit auf.
Kritisches Hinterfragen lohnt sich
Es kann also durchaus zielführend und wirtschaftlich sein, die etablierte dreistufige Methodik nicht als gesetzt hinzunehmen. Die Konzentration auf die Soll-Konzeption ist sinnvoll, wenn die neue digitale Welt den Prozess neu interpretieren darf.
Wenn der Prozess rechtlich anspruchsvoll und komplex ist und wenig explizites Wissen dazu vorhanden ist, dann bleibt die Ist-Aufnahme und Ist-Prozess-Optimierung unverzichtbar und ist auch effizienter.
In jedem Fall sollte der erste Schritt der Prozessoptimierung nicht die Ist-Aufnahme sein, sondern die Fallbetrachtung und Entscheidung, welche Methodik angemessen ist.
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