Mittlerweile wird Erdgas in Europa in großem Stil aus Ländern wie Norwegen oder über LNG-Terminals in Belgien und den Niederlanden importiert – also aus Richtung Westen. Eigentlich egal, woher das Gas zu den Unternehmen und den Haushalten gepumpt wird, möchte man meinen. Der Umstand erzeugt allerdings erheblichen Anpassungsbedarf.
Die Transportnetze für Erdgas sind seit vielen Jahren dafür optimiert worden, Gas von Osten nach Westen zu transportieren. Nun müssen die großen Gasverbraucher in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt beispielsweise ihr Gas vorrangig aus Norwegen oder den Niederlanden beziehen. Der Transport in die andere Richtung ist möglich, aber sehr herausfordernd.
Man kann sich das vereinfacht gesagt wie einen Baum vorstellen, der Wasser aus dem Boden (Osten) in seine Blätter (Westen) befördert. Das Gasnetz ist ähnlich aufgebaut: Große Pipelines verlaufen von Ost nach West und verzweigen sich dann in immer mehr Rohre im Westen. Für den Transport ist außerdem Energie in Form von Druck notwendig. Dieser Druck wird technisch durch Verdichter erzeugt. Das sind meist mit Gas betriebene Turbinen, ähnlich wie bei Flugzeugen. Die meisten Verdichter stehen an neuralgischen Punkten im Osten und befördern das Gas weiter. Verdichter werden nun aber vor allem im Westen benötigt.
Das heißt, dass aktuell nicht genauso viel Erdgas von Westen nach Osten transportiert werden kann wie andersherum. Vergleichbare Kapazitäten werden sukzessive aufgebaut, das aber dauert. Durch diese Lage kann es zu Engpässen beim Transport kommen. Das bedeutet: Es kann nicht immer das gesamte stündliche Volumen transportiert werden. Diese Engpässe müssen so gemanagt werden, dass sie nicht zu spürbaren Einschränkungen für die Industrie und Privathaushalte führen. Es braucht somit Transparenz, welche Gasabnehmer gerade temporär weniger Gas verkraften können und welche nicht. Zusätzlich muss das Setting zu den geschlossenen Verträgen passen. Außerdem braucht es ein Regelwerk, in dem festgehalten ist, wie die Lieferungen physisch gesteuert werden.
Komplexität hoch x
Die Krux bei der Sache ist: Es gibt im deutschen Marktgebiet der Trading Hub Europe (THE) mit seinen fragmentierten Transport- und Verteilnetzen eine Fülle so genannter Kapazitätsprodukte, über die Kunden Mengen und Transporte buchen können. Durch die Produktvielfalt, die zahlreichen Schnittstellen und involvierten Partner sowie nicht zuletzt durch unterschiedliche regulatorische Vorgaben sind die definierten Engpassregeln im Ergebnis nur Leitplanken. Die konkrete Ausgestaltung dieser Regeln obliegt den Netzbetreibern. Zum Vergleich: Eine gesetzliche Regelung umfasst etwa acht, die konkreten Verträge und Abmachungen der Marktteilnehmer rund 60 Seiten. Eine derartige Engpassauflösung ist somit Komplexität hoch x.
Neue Verkehrsregeln für Gastransporte erforderlich
Nun gab es Engpässe auch schon vor 2022. Deshalb existieren auch Regeln dafür, welche Transporte in welchem Ausmaß bei ausgeschöpften Kapazitäten einzuschränken sind. An dieser Stelle war man sehr kreativ und erfand verschiedene Kapazitätsprodukte mit unterschiedlichsten Preisen. Neben festen, nie einzuschränkenden und günstigeren Produkten, welche bei Spitzenlast zuerst unterbrochen werden, gibt es noch strecken- und temperaturabhängige Produkte. Deren Einschränkung ist damit an unterschiedliche, teilweise sehr schwer zu ermittelnde Bedingungen geknüpft. Diese Einschränkungen wirken sich direkt auf den physischen Transport aus.
Mit ausgeklügelter Software und speziellen Algorithmen wurde so über Jahre verfeinert, wie die Lieferungen durch Pipelines zu den Abnehmern kommen. Mit der Simulationssoftware MYNTS (Multiphysical Network Simulator) lassen sich beispielsweise Gasnetze modellieren und Auswirkungen wie etwa begrenzte Durchflussmengen anzeigen.
So weit, so gut – oder doch nicht so gut. Denn durch die geänderte Fließrichtung und die recht schlagartig geänderten Anforderungen an die Gaslieferwege müssen die über Jahre gewachsenen Algorithmen für die Engpassauflösung angepasst werden. Die Akteure müssen die Regeln umdefinieren, Datenflüsse und Schnittstellen verändern und den Algorithmen neue Optimierungsaufgaben als Hausaufgabe mitgeben.
Digitalisierung als Pacemaker der Engpassmanager
Die Transformation und auch die Engpassauflösung finden zu einem großen Teil in den IT-Systemen statt. Moderne Cloud-Plattformen gewährleisten heute bereits eine zuverlässige Vermarktung, Abwicklung und Abrechnung von Energieprodukten und -prozessen in allen Teilen der Wertschöpfungskette.
Das ist eine Chance: Mit dieser Technologie können die Gasnetzbetreiber und alle Beteiligten auch das Engpassmanagement verbessern. Das kann zum einen durch eine stärkere Automatisierung bei der Identifizierung von Engpässen geschehen. Jede Druck- oder Temperaturänderung, jede Veränderung eines Verbrauchers führt zwangsläufig zu einer Neubewertung der Transportsituation und damit zu einem potenziellen Engpass. Solche Neubewertungen finden tausendmal am Tag statt.
Dieses Umfeld schreit praktisch nach Automatisierung und intelligenten Lösungen. Skalierbarkeit und Leistungsfähigkeit sowie ein schonender Umgang mit den vorhandenen Ressourcen sind für die Versorgungssicherheit unerlässlich. Tritt ein Engpass auf, ist eine regelkonforme Auflösung des Engpasses notwendig. Eine Vielzahl von Bedingungen und Abhängigkeiten muss berücksichtigt werden, damit eine optimale und nachvollziehbare Verteilung der zur Verfügung stehenden Energie im Sinne der geltenden Regelwerke möglich ist.
Größere Adaptionsfähigkeit schafft Resilienz
Ein weiter Vorteil der Cloud-Technologie: Die standardisierten Abläufe und interoperablen Systeme lassen sich mit weniger Handgriffen für neue Geschäftspartner, kommende Energiequellen wie Wasserstoff und neue Marktbedingungen konfigurieren, als das mit historisch gewachsenen Entwicklungen möglich ist.
Energieversorger und Regulierer sollten die erforderlichen Anpassungen bei der Engpassauflösung als willkommene Einladung auffassen. Idealerweise passen sie die Infrastruktur, Regelwerke und IT nicht nur an den neuen Status quo an, sondern bauen gleich mehr Flexibilität und Anpassungstempo in das Gasnetzmanagement ein. Damit ist Europa besser für die nächste große Transformation im Energiemarkt und kommende externe Entwicklungen im Sinne von De-Risking gerüstet.
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#Werbeblock: Co-Creation von Sopra Steria und 4 Gasnetzbetreibern
Sopra Steria ist mit seiner Lösung cpX.Energy stark in die beschriebene Thematik involviert. Zahlreiche Netzbetreiber in Deutschland und Europa nutzen die Lösung für ihr Gasnetzmanagement. Aktuell arbeiten unsere Utilities-Kolleginnen und -Kollegen mit vier großen Netzbetreibern an konkreten Antworten darauf, wie sich die Engpassauflösung unter den veränderten Bedingungen und generell mit modernen digitalen Hilfsmitteln optimieren lässt. Dazu werden unter anderem User Stories formuliert, damit die Nutzerinnen und Nutzer der Software bestmöglich durch IT unterstützt werden. Die Erkenntnisse des Projekts fließen in die Software cpX.Energy ein.
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