Anbieter von Over-the-top Content (OTT) wie Amazon Prime, Dazn, myVideo und Netflix haben gut lachen: Sie ernten die Lorbeeren für tolle Geschäftsmodelle, ihre Marken werden als innovativ wahrgenommen – und alles praktisch ohne einen Cent in Aufbau und Betrieb der dafür nötigen Netzinfrastruktur zu investieren. Die Telekommunikationsanbieter kommen dabei zu schlecht weg. Es ist Zeit, dass sie sich von ihOhrer Rolle als reiner Erfüllungsgehilfe der hippen Content- und Dienstlieferanten befreien.
Klar, die Telekommunikationsbranche braucht die OTTs, um ihre schnellen Datentarife zu verkaufen. Die Umsätze mit 100 MBit-DSL-Anschlüssen, High-end-Smartphones sowie LTE- und bald 5G-Verträgen würden nicht so üppig ausfallen, wenn wir Kunden nur E-Mails, Fotos und WhatsApp-Nachrichten verschicken könnten. Wir kaufen und bestellen, weil wir damit ruckelfrei und unterwegs Videos über Youtube oder den Eurosport Player schauen sowie Gigabytes an Daten in die Dropbox oder auf Google Drive laden können.
Drei Stellschrauben für mehr digitale Exzellenz
Umgekehrt brauchen Anbieter für OTT Content die Telekommunikationsunternehmen. Ihr HD-Content und ihre Cloud-Dienste würden in den App Stores versauern, würde es nicht stabile und schnelle Netze geben, die die Inhalte transportieren. Es wäre deshalb nur logisch, wenn Netzbetreiber als ähnlich innovativ wahrgenommen würden. Das passiert allerdings nicht. Die Branche gilt als eher unflexibel und antiquiert. Um das zu ändern, sollten die Unternehmen zunächst Basisarbeit betreiben und in den nächsten Jahren eine digitale Exzellenz in drei Kernbereichen aufbauen:
1. Kundenkenntnis als Geschäftsmodell
Telekommunikationsanbieter kennen das Kundenverhalten wie kaum ein anderes Unternehmen, weil die Kunden die Dienstleistung ständig nutzen. Ein Versicherer wäre froh, wenn er die Customer Journey so genau messen könnte und so viele Kontaktanlässe serviert bekommen würde. Die Aufgabe besteht darin, aus Big Data und Business Intelligence die vielbeschworene 360-Grad-Sicht auf Kunden zu erzeugen – mit echten Erkenntnissen, runtergebrochen auf den einzelnen Kunden. Wem das gelingt, verhandelt mit den OTTs auf Augenhöhe und tritt eher als Partner neben den OTTs beim Kunden in Erscheinung.
2. Technologische Agilität herstellen
Die Entscheider sollten Agilität nicht auf die Umstellung auf Scrum reduzieren. Eine agile IT-Organisation reagiert insgesamt flexibel auf Veränderungen, integriert externe Partner und moderne Technologien in den Innovationsprozess, kann sie beispielsweise schnell je nach Bedarf an- und abschalten. Hierfür sind moderne Schnittstellen und IT-Architekturen notwendig sowie die Fähigkeit des Unternehmens, Experten und ganze Teams bedarfsweise einzukaufen. Diese Veränderungen setzen die Voraussetzungen, eine größere Zahl von Entscheidungen schneller umzusetzen und finanziell nicht aus dem Ruder zu laufen.
3. Öffnung der Produkt- und Finanzierungsmodelle
Telekommunikationsmärkte kennen einen wesentlichen Revenue-Stream: Der Kunde zahlt. OTTs haben andere Wege gefunden. Kunden sind es gewohnt, einen Dienst kostenlos zu nutzen und erst dann zu zahlen, wenn sie eine gewisse Qualität hinzukaufen wollen. Derartige Preismodelle eignen sich auch für die klassische Telekommunikation und sind auch im Rahmen der gesetzlich verankerten Netzneutralität denkbar. Warum nicht einen Dienst entwickeln, damit das selbstfahrende Auto im 5G-Netz kurze Latenzzeiten erhält?
Warum nicht Amazon Prime, Netflix und Sky Go daran beteiligen, dass Samstagsabends um 20 Uhr der Stream unterbrechungsfrei läuft? Wenn die OTTs einen Mehrwert in einem schnellen Netz sehen und investieren, bekommt selbst das Projekt Breitbandausbau in Deutschland mehr Schwung, und die Telekommunikationsbranche muss die horrenden Investitionen nicht ohne Gegenfinanzierung oder massiven Preiserhöhungen stemmen.
Eigenes Ökosystem für OTT Content schaffen
Mit dem Meistern der drei Kernherausforderungen legen die Telekommunikationsanbieter die notwendige Basis für ein eigenes OTT-Ökosystem, bildlich gesprochen ein digitales „Zuhause“ für ihre Kunden, in denen beispielsweise eigene Content-Dienste wie Telekom Entertain oder Vodafone TV als Basisleistungen fungieren und modular erweiterbar sind.
Dann drehen die Telekommunikationsunternehmen den Spieß um, und die OTTs stehen Schlange, um ebenfalls Teil dieses Ökosystems zu sein. Es ist schließlich kein Naturgesetz, dass der Inhaltelieferant dem Infrastrukturanbieter die Konditionen diktiert. Damit dieser Umbruch gelingt, braucht es beherzte und teils radikale Entscheidungen sowie Investitionen in die eigene Organisation – nicht nur in den Technologieausbau.
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