Digitale Exzellenz
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Digitales Gesundheitswesen: Darum sind wir (noch) kein Plattform-Valley

, 8. Juni 2021

Lesezeit: 6 Minuten

Digitales Gesundheitswesen: Darum sind wir (noch) kein Plattform-Valley

Nicht nur beim Impfen, auch beim Errichten digitaler Plattformen gilt das Gesundheitswesen in Deutschland nicht als Vorreiter. Das liegt an einer Fülle an Barrieren. Gastautorin Maria Maliarevitch wollte mehr wissen und forschte zu Akteuren, Leistungen sowie Chancen und Hürden bei der Einführung digitaler Healthcare-Plattformen. Hier ein kleiner Parforceritt durch die Ergebnisse ihrer Masterarbeit.

Es ist nicht so, dass digitale Plattformen in Deutschland nicht vorhanden sind. Die Akteure des Gesundheitswesens – Kliniken, Arztpraxen, Krankenkassen, Verbände, Pharmaunternehmen, Apotheken, helfende Dienstleister und viele mehr – haben bereits einige Erfahrungen auf dem Gebiet gesammelt.


 „Eine digitale Plattform im Gesundheitswesen ist ein Ort des Austauschs, an dem Informationen sowie abrechnungsrelevante und medizinische Daten zur Verfügung gestellt werden. Dabei können Anbieter digitaler Plattformen mit Leistungserbringern, Kostenträgern, Industrie, Institutionen und Behörden sowie Patienten und weiteren Akteuren digital vernetzt werden. Beispiele solcher digitalen Plattformen können Applikationen, Softwarelösungen oder virtuelle Marktplätze sein.“

Verständnis der befragten Akteure zu digitalen Plattformen im Gesundheitswesen

Viele der bereits aktiven Plattformen dienen als Organisationsplattformen und persönliche Gesundheitsmanager. Sie möchten Formulare, Bescheinigungen und Rezepte aus Papier buchstäblich zu den Akten legen und beim Planen von Arzt- und Impfterminen sowie der Medikamenteneinnahme helfen, den Überblick zu behalten.

Dann gibt es fachliche Plattformen mit Präventionsangeboten, Angeboten zur Betreuung von Schwangeren, Angeboten im orthopädischen, psychotherapeutischen sowie pharmazeutischen Bereich sowie spezielle telemedizinische und -radiologische Monitoring-Plattformen.

Darüber hinaus nutzen oder betreiben die Akteure Plattformen für die Aufbereitung von Controlling-Daten. Es gibt aber auch reine Informationsplattformen wie den Ärztenachrichtendienst, und es gibt die Portale der Krankenversicherer sowie Social-Media-Plattformen zum Dialog mit den Patientinnen und Patienten.

Es fehlen die großen Ökosysteme im Gesundheitswesen

Status quo sind somit viele verschiedene Insellösungen. Was nun im nächsten Schritt kommen sollte, sind kleine Amazons unter diesen Plattformen – Ökosysteme, die einzelne Plattformansätze zusammenfügen und integrieren. Doch derartige Plattformen haben in Deutschland mit besonders großen Startschwierigkeiten zu kämpfen. Die Expertenbefragung im Rahmen der Masterarbeit ergab, dass sich einzelne Barrieren in vier Cluster einteilen lassen:

Strukturelle Hürden

Das Gesundheitswesen in Deutschland ist ein Vorzeigebiotop in Sachen Artenvielfalt. Darin tummelt sich eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Akteure. Jeder arbeitet und denkt anders getrennt für sich. Jeder dieser Akteure hat eigene Interessen und steht mit den anderen Akteuren im Wettbewerb, beispielsweise um Fördergelder im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG). Strategische Partnerschaften oder die Einigung auf Standards gestalten sich immens schwer. Dem Gesetzgeber gelingt es in Anbetracht dieses Wusts an Akteursgruppen nicht, einen Ordnungsrahmen für die Einführung und Entwicklung von digitalen Plattformen vorzugeben. Die Folge: Ein solches Gebilde schreckt Start-ups als Plattformbauer mit ihren agilen Managementansätzen ab und verzögert auch die digitale Transformation im Innern des Systems.

Technische Hürden

Heterogene Akteure bedeuten heterogene IT-Systemlandschaften. Kein technischer Bebauungsplan gleicht dem anderen. Tatsächlich ist die unzureichende Interoperabilität eine der zentralen Show Stopper digitaler Plattformen. Digitalfirmen investieren nicht in digitale Plattformen, weil die kritische Masse an Abnehmern und Nutzern fehlt. Der Mehrwert für die Nutzer der meisten digitalen Plattformen entsteht nämlich erst dann, wenn möglichst Viele mitmachen. So kann die Transparenz über Behandlungspfade nur dann entstehen, wenn alle Akteure eingebunden sind. Dem deutschen Gesundheitswesen steht hier ein Kraftakt auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung bevor. Mangelhafte Nutzerfreundlichkeit bestehender IT-Systemlandschaften sowie der unzureichende Ausbau der IT-Infrastruktur sind dazu vergleichsweise leicht zu überwindende Hürden.

Ökonomische Hürden

Komplexität und Heterogenität im deutschen Gesundheitssystem sind nicht gerade ein guter Anreiz für Healthtechs zu investieren. Die vielen Akteure, Systeme und Besonderheiten schrecken auch private Kapitalgeber ab. Bisher scheiterten Investitionen in digitale Plattformen, beispielsweise von Krankenhäusern, häufig an der fehlenden Refinanzierbarkeit. Die Folge ist ein erheblicher Investitionsstau im Gesundheitswesen. Der Staat hat immerhin im Rahmen des KHZG ein Milliarden-Förderpaket geschnürt. Die Zahl der Akteure, die diese Fördermittel abrufen, fällt allerdings größer aus, da die Nachfrage das Angebot deutlich schlägt.

Es braucht also noch mehr Anreizsysteme zur Einführung von digitalen Plattformen und eine Strategie, um die umkämpften IT-Fachkräfte gezielt für den digitalen Umbau des Gesundheitswesens zu gewinnen. Die aktuelle Pandemie und die bisherigen Erfahrungen mit digitalen Plattformen sind eine gute Gelegenheit, jetzt zu handeln

Kulturelle Hürden

Ein runder Tisch, mehr Technologie-Know-how und Standardisierung sowie mehr finanzielle Anreize sind gute Lösungen, um die drei genannten Barrieren zu durchbrechen. Sie greifen aber nur, wenn auch Hürde Nummer 4 genommen wird: das Mentalitätsproblem. Bei allen Akteuren im Gesundheitswesen in Deutschland überwiegt beispielsweise die Angst vor Angriffen, Datenklau sowie dem Korrumpieren der Daten. Zudem denken viele Entscheider noch zu wenig über den eigenen Tellerrand hinaus. Es bräuchte mehr übergreifende Digital Hubs wie in Erlangen und Nürnberg, um das zu ändern.

Viele Change-Päckchen zu tragen

Diese vielen Barrieren zu kennen ist enorm wichtig, um das aktuelle Tempo der Digitalisierung richtig einzuordnen, und sogar wertschätzen zu können. Wenn Dinge nicht so laufen, wie es eigentlich sein soll, reagiert die Öffentlichkeit gerne mit Häme. Ersthelfer für diese Situation ist Aufklärung. Zu verstehen, warum die Dinge so laufen wie sie laufen, beruhigt die Nerven, weil die handelnden Personen nicht mehr unfähige Schuldige sind, sondern ebenfalls Opfer der Umstände. Auf dieser Basis lässt sich gemeinsam an der Veränderung des Systems arbeiten.

Klar ist: Alle Akteure haben dabei ihr Change-Päckchen zu tragen, damit in Deutschland schnell mehr und übergreifende digitale Healthcare-Plattformen entstehen. Die Haupttransformationslast tragen die Leistungserbringer, Kostenträger und die öffentliche Verwaltung. Von zentraler Bedeutung sind große Kooperationsinitiativen. Dafür braucht es

  • gegenseitiges Vertrauen,
  • Mehrwerte für Alle,
  • ein gemeinsames Verständnis, dass digitale Plattformen nicht nur ein „Nice to have“ sind, sondern ein strategisch wichtiges Instrument darstellen und
  • einheitlich hohe Sicherheitsstandards, die die Freiheiten des gesetzlichen Rahmens optimal nutzen.

Bewegen müssen sich allerdings auch die im Fokus stehende Konsumenten und Nutznießer digitaler Gesundheitsplattformen – und wenn es im ersten Schritt bedeutet, eine angemessene Offenheit gegenüber dem Teilen von Daten zu entwickeln. Es muss ja nicht die gleiche Offenheit sein wie gegenüber Google und Apple. Krankheitsverläufe und Gesundheitsdaten beinhalten – im Gegensatz zu Nutzungsdaten, die mit Plattformgiganten wie Google und Apple geteilt werden – eben doch persönliche und schützenswerte Informationen über jeden Einzelnen von uns.

Bild: Getty Images / ipopba