Digitale Exzellenz
Digitale Exzellenz

Auskomponiert: Wie ein Algorithmus die Pop-Musik durchspielt

, 24. Juni 2020

Lesezeit: 4 Minuten

Auskomponiert: Wie ein Algorithmus die Pop-Musik durchspielt

Künstliche Intelligenz sorgt für Trubel in der Musikszene. Zwei US-Amerikaner erzeugen eine neue Klangfarbe in der Auseinandersetzung um Urheberrechte. Ihr Algorithmus könnte die Debatte, wer eine Melodie erfunden hat, ein für alle Mal beenden.

Damien Riehl und Noah Rubin, Musiker und zugleich auch Programmierer und Anwälte, haben mit einem Algorithmus jede mögliche Pop-Melodie der Welt ausgerechnet, gefunden beim Hörfunk-Magazin Zündfunk auf Bayern 2. OK, nicht jede: Die beiden haben sich auf die acht Töne der westlichen Dur- und Moll-Tonleitern sowie auf eine maximale Melodielänge von zwölf Tönen beschränkt – wie wahrscheinlich mehr als 90 Prozent aller Pop-Titel auch. Zudem haben sie auf akkordfremde Töne und auf Modulationen verzichtet – wohl, um es nicht komplizierter zu machen als sowieso schon.

„Komponiert“ hat das ein selbst programmierter Algorithmus, der alle möglichen Melodien ausgerechnet und als MIDI-Dateien abgespeichert hat. Am Ende kam eine stattliche Zahl von etwa 68,7 Milliarden Melodien heraus, die zwar groß klingt, aber doch eben endlich ist. Die Zahl ergibt sich rein rechnerisch aus der einfachen Gleichung von acht Tönen einer Tonleiter in einer Melodiefolge von maximal zwölf Tönen (812 = 68.719.476.736).

Die komplette Popmusik passt auf eine handelsübliche Festplatte

Immerhin, und das ist für die Geschichte wichtig, passen alle möglichen Pop-Melodien mit einer Gesamtgröße von etwa 600 GByte noch auf eine handelsübliche Festplatte. Denn sobald eine Melodie niedergeschrieben oder auf einem Ton- oder Datenträger veröffentlicht ist, genießt sie grundsätzlich einen Urheberrechtsschutz. Theoretisch besitzen die beiden Musiker/Programmierer/Anwälte nun damit das Copyright auf jeden noch ungeschriebenen Pop-Song der Welt. Die bereits existierenden haben sie, rein rechnerisch, auch mitkomponiert, aber die sind natürlich bereits anderweitig geschützt.

Schutzbedürfnis versus Zitatrecht

Darüber, was ein schutzbedürftiges musikalisches Werk ist, gibt es seit langem und an konkreten Einzelpunkten immer wieder Streit. Zuletzt etwa entschied der Bundesgerichtshof (BGH) im April dieses Jahres in einem seit mehr als 20 Jahren andauernden Rechtsstreit zwischen der Band Kraftwerk und dem Produzenten Moses Pelham, dass auch kleine Ausschnitte („Samples“) nur mit Erlaubnis für eigene Songs verwendet werden dürfen. Das Urteil entspricht einer Gesetzesnovelle aus dem Dezember 2002. Andererseits sind musikalische Zitate, ja Plagiate in der Musik nicht ungewöhnlich, sondern werden, oft sogar als Referenz an die Urheber, sehr oft verwendet. Die britische Band Coldplay beispielsweise nutzt ebenfalls ein Kraftwerk-Zitat im Song „Talk“ – allerdings mit deren Erlaubnis.

Die Diskussion um ein neues Urheberrecht wird auch durch die Entwicklung der Technologie befeuert: Das verlustfrei mögliche Kopieren von Musik macht es dringend notwendig, das Zitatrecht neu zu regeln, um nicht viele, oft auch völlig unbekannte Künstler zu potenziellen Rechtsbrechern zu machen.

Riehl und Ruben wollen nicht das Geschäftsmodell der Musik zerstören

Den beiden US-Amerikanern ging es vor allem um einen originellen Beitrag zu dieser Debatte: „Damien Riehl und Noah Rubin wollen zeigen“, so der Zündfunk: „Wenn die Anzahl der möglichen Melodien so begrenzt ist, dann sollte es nicht möglich sein, auf einfache Tonfolgen einen Urheberrechtsanspruch zu bekommen – vor allem, wenn sich die Lieder außer dieser Kleinigkeit kaum ähneln“, wenn sich also zum Beispiel Instrumente und Arrangements komplett unterscheiden. Es gehe ihnen auch nicht darum, dass Musikschaffende kein Geld mehr verdienen können, sagt Noah Rubin im Gespräch. „Im Gegenteil: Wir wollen, dass sie mehr Freiheit haben, die Musik zu machen, die sie wollen.” Julia Bähr kommentiert das in der F.A.Z. sehr treffend: „Melodien für Millionen“.

Open Source ist der Hit!

Deshalb haben Damien und Noah alle generierten Melodien ins Internet gestellt – unter freier Lizenz: Interessierte können sie unter allthemusic.info komplett herunterladen und berühmt damit werden. Und müssen nie wieder Angst davor haben, von jemand anderem verklagt zu werden, nur weil es eine ähnliche Melodie wie ihre schon geben könnte. „Denn sie streichen einfach den Konjunktiv: Es gibt jetzt jede Melodie.“

Durch den Coup der beiden Musiker/Programmierer/Anwälte sind nun Milliarden bisher unkomponierter Melodien gemeinfrei – zumindest theoretisch. Denn kommt es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung, wird zu klären sein, ob ein Algorithmus überhaupt ein Werk mit der für den Urheberrechtsschutz notwendigen „schöpferischen Eigentümlichkeit“ schaffen kann. Und das ist, es bleibt kompliziert, überhaupt nicht einfach zu beantworten.

Fazit: Neue Technologien wie Künstliche Intelligenz, aber auch Blockchain wird noch einige interessante Geschäftsmodelle entstehen lassen und dabei neue Fragestellungen aufwerfen, die nicht nur Entwickler und Anwender beschäftigen, sondern auch Juristen und Ethiker.