Digitale Exzellenz
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Insurtech Lemonade – so cool ist das Geschäftsmodell

, 3. Juli 2017

Lesezeit: 8 Minuten

Insurtech Lemonade – so cool ist das Geschäftsmodell

In der Welt der Insurtechs gibt es viele Versuche, das Produkt Versicherung besser oder einfacher für den Kunden zu gestalten und einen Coolness-Faktor zu erzeugen. Ende 2016 startet auch das Unternehmen Lemonade den Versuch, die Versicherungsbranche umzukrempeln – zunächst mit Mieter- und Hausversicherungen in New York. Das Ziel der Gründer ist von Anfang an ambitioniert, trifft aber den Nerv der Kunden: „Forget everything you know about insurance“ lautet der Claim. Zu Recht: Von komplizierten Policen und Versicherungsvertretern sieht man hier nichts – stattdessen setzt das Insurtech auf nutzerfreundliche Bedienung und Künstliche Intelligenz.

Internationale Markteinführung beginnt in Deutschland

Mittlerweile hat sich das Startup in der Versicherungswelt einen Namen gemacht und ist seit 2019 auch auf dem deutschen Markt aktiv. Deutschland ist dabei das erste Ziel für die internationale Markteinführung. Co-Founder Shai Winniger begründet die Wahl damit, dass Deutschland seine traditionelle Versicherungsbranche mit einem sehr vorausschauenden, digitalen Endverbraucher verbinde. Jeder Deutsche hat also seit vergangenem Jahr die Möglichkeit, bei Lemonade eine Hausrat- und Privathaftpflichtversicherung abzuschließen – mit jedem Gerät, jederzeit und innerhalb von 90 Sekunden. So lange dauert das Abschließen einer Versicherung via App. Das ist geschwindigkeitstechnisch jedoch noch nicht mal der Rekord: Lediglich 3 Sekunden dauerte die Zahlung der Schadensforderung eines Kunden, der dafür nicht mal einen Stift in die Hand nehmen musste. Damit hebt sich Lemonade eindeutig von anderen Versicherungen ab, bei denen ein solcher Vorgang auch schon mal ein paar Wochen in Anspruch nehmen kann.

Damit sind wir auch bei einem maßgeblichen Unterschied zu vielen anderen Insurtechs: Lemonade darf sich stolz Versicherer nennen. Das Unternehmen ist selbst Risikoträger. Das große Differenzierungsmerkmal gegenüber anderen Versicherern ist die strikte Trennung von Vertrieb und Risikoträger. 20 Prozent der Prämieneinnahmen sind für Rückversicherung, Gehälter, Technologie und Geschäftsbetrieb reserviert. Der Rest wird für Schadenzahlungen genutzt.

Soziale Ader der Kunden als Rezept gegen Versicherungsbetrug

Erwirtschaftet das Unternehmen Gewinne aus dem versicherungstechnischen Ergebnis, fließt dieses Geld in das so genannte Giveback-Programm. Das Startup spendet Überschüsse aus dem Tagesgeschäft für soziale Zwecke. Die Kunden wählen selbst ein Lieblingsprojekt oder eine Lieblingsorganisation, an die gespendet werden soll. Wer sich für den gleichen Giveback entscheidet, wird in eine virtuelle Gruppe von Gleichgesinnten (peer group) zugeordnet. Die Höhe des Givebacks richtet sich nach dem versicherungstechnischen Ergebnis der Gruppe. Übersteigen die Schadenaufwendungen einer Gruppe ihre Einnahmen, springt der Rückversicherer ein, beispielsweise die Branchenriesen Lloyd’s of London und XL Catlin.

Das Pfiffige an der Idee: Hier geht es um eine Lösung, die an die Moral der Kunden appelliert. Das Credo ist also: Wenn du, lieber Kunde, Versicherungsbetrug begehst, dann bekommt ein Mensch in Not weniger Geld – und eben nicht der Geschäftsführer im Glaspalast. Zudem setzen sich die Gründer mit ihrem Geschäftsmodell von Kritik an der klassischen Versicherungsbranche ab, die besagt: „Je weniger Versicherer für Schäden bezahlen müssen, desto reicher werden sie.“ Lemonade betont deshalb immer wieder in ihrer Kommunikation den „It’s not our money“-Gedanken.

„Vertrau mir, ich bin ein Versicherer“

Ein radikal verfolgtes Ziel Lemonades ist somit die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherungsnehmer. Das Geschäftsmodell trifft den Nerv vieler Kunden, die schlechte Erfahrungen im Schadenfall gemacht haben. Wer dem Versicherer nicht vertraut, wird im Zweifel wohl eher Versicherungsbetrug begehen, insbesondere wenn lediglich zur unrechtmäßigen Schadenzahlung der Gewinn des Konzerns reduziert wird. Diesem negativen Anreiz setzt Lemonade ein Gegenkonzept entgegen, indem es quasi als Non-Profit-Organisation (NGO) auftritt.

Kampfpreise durch 100-Prozent-Digitalisierung

Was die Prämienhöhe angeht, ist Lemonade ebenfalls in der Lage, für Kunden sehr interessant zu sein. Denn da man als Online-Direktversicherer den Vertrieb vollständig über die eigene App abbildet und mittlerweile auch eine etwas strengere Risikoselektion betreibt, sind die Prämien nach eigenen Angaben im Branchenvergleich sehr niedrig. Für den Kunden, der keinen persönlichen Ansprechpartner für Vertragsabschluss und Schadenfall benötigt, also sehr gute Voraussetzungen.

Bots als künstliche Intelligenzbestien

Der Versicherungsbetrieb läuft weitgehend digital und mit künstlicher Intelligenz ab. Die KI-Bots A.I. Maya und A.I. Jim teilen sie sich das Kerngeschäft. A.I. Maya ermittelt und analysiert den Bedarf des Kunden und erstellt auf Basis der Daten ein Angebot. A.I. Jim nimmt die Schäden auf, bearbeitet sie entweder automatisiert (inklusive Auszahlung) oder gibt sie bei besonders kniffligen Fällen an menschliche Kollegen ab. Schäden melden die Kunden zum Beispiel per Videobotschaft. Die Regulierung eines Fahrraddiebstahls dauert nach Angaben von  Insurtech Lemonade im Idealfall drei Sekunden, inklusive Prüfung, Entscheidung und Auszahlung.

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Lemonade hat viel in die KI-Entwicklung investiert und lange untersucht, wie Menschen Schäden bearbeiten. Mit den erhobenen Daten wurde dann der Algorithmus hinter dem Bot gefüllt. Dieser „versteht“ nun, wie schlimm ein Schaden ist, ob der Kunde einen Notfall hat und ob der Schaden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einem Betrug dient. Zudem „lernt“ Jim stets dazu. Aber auch der Algorithmus hinter dem Underwriting ist lernfähig. Er behält den gesunden Risiko-Mix für das weitere Wachstum im Auge. Lemonade hat in den vergangenen Monaten in eine Optimierung der Risikoselektion investiert. Das Unternehmen muss also auch Kunden ablehnen, um beispielsweise nicht zu viele Risiken in direkter Küstennähe zu zeichnen.

Hier kommt auch das Projekt Watchtower ins Spiel, das 2019 ein umfangreiches Update erhalten hat: Es können nun anhand von NASA-Satellitendaten Unwetterereignisse erkannt werden, um so beispielsweise Stürme zu verfolgen. Die künstliche Intelligenz Maya nutzt dieses System, um in Echtzeit auf sich entwickelnde Katastrophen zu reagieren. Das Team wird dadurch über eventuelle Notfälle informiert, die menschliche Kräfte benötigen und Nutzer können vor Umweltereignissen in ihrer Nähe gewarnt werden, noch während sie sich entwickeln.

Ein weiteres System, das die Bots unterstützt, ist das sogenannte Forensic Graph Network (FGN). Mit einer Kombination aus Verhaltensökonomie, KI und Big Data hilft es dabei, Versicherungsbetrug aufzudecken: Es werden große Datenmengen gesammelt und analysiert und somit betrügerisches Verhalten identifiziert. Dieser Vorgang hat bereits potenzielle Verluste in Millionenhöhe verhindert. Das Unternehmen selbst bezeichnet diese Systeme auch als sechsten Sinn ihres menschlichen Teams. Dank ihnen konnte Lemonade Betrugsfälle in Echtzeit zu erkennen, Risiken analysieren und schneller auf Notfälle reagieren. Im vierten Quartal 2019 gelang es so, die Verlustquote auf 73 Prozent zu senken. Zum Vergleich: Ein Jahr zuvor waren es noch 99 Prozent.

Die „saure Note“ von Lemonade

Man kann Insurtech Lemonade allerdings auch Dinge vorwerfen: Das Unternehmen ist zwar ein cooler Online-Versicherer, aber verlässt sich möglicherweise zu sehr auf seine Technologie. Denn Chatbot und automatisiertes Schadenmanagement samt möglicher direkter Auszahlung per App ist zwar hochspannend und effektiv. Offen bleibt jedoch, wie die Roboter von Lemonade reagieren, wenn ein riesiger Ansturm nach einem Großereignis herrscht, beispielsweise einem Tornado.

Zudem grenzt das Konzept weniger technikaffine Kunden aus. Es gibt genug Versicherungsnehmer, die sich nach einer Naturkatastrophe mit großen Schäden am Inventar bei einem Versicherungsagenten wohler fühlen als mit einem Bot. Darüber hinaus wird sich auch Lemonade gewissen Marktmechanismen nicht entziehen können, die am Image des „Anwalts der Kunden“ nagen werden. Auch Lemonade wird Schäden ablehnen und früher oder später in einem Rechtsstreit landen – einfach weil das Produkt Versicherung viel Spielraum für Einzelfälle bietet.

Die Eroberung Europas

Dennoch: Die Kapitalgeber sind begeistert von 20 Prozent risikofreiem Einkommen. Ein derart ambitioniertes und durchdachtes Geschäftsmodell ruft zudem andere Versicherer als Partner oder Kaufinteressenten auf den Plan: Ausgerechnet der deutsche Branchenriese Allianz hat bereits im April 2017 ein strategisches Investment getätigt und hat noch heute eine Partnerschaft mit dem US-Insurtech. Insbesondere die Nutzung künstlicher Intelligenz und von Verhaltensökonomie habe die Allianz überzeugt.  

Dieses Investment hatte nicht nur einen finanziellen Nutzen, sondern bot auch einen Vorteil bei der Übersiedlung in die deutsche Versicherungswelt. Das langfristige Ziel ist aber, nach Deutschland auch den restlichen europäischen Markt zu erobern. Genau das wird aktuell in Angriff genommen, denn seit April 2020 ist Lemonade auch in den Niederlanden nutzbar. In Europa bietet das Startup zudem eine Besonderheit: die sogenannte Police 2.0, die es so bisher nur in Deutschland und in den Niederlanden gibt. Dabei handelt es sich um ein leicht verständliches, verbraucherfreundliches Dokument, das auf hochtrabende, unverständliche Versicherungssprache verzichtet. Man möchte dem Kunden seine Versicherung näherbringen – und zwar ohne, dass dieser dafür Finanzwissenschaften studiert haben muss. Damit scheint das Versicherungs-Startup erfolgreich zu sein: Im Jahr 2018 stieg der Umsatz von 10,1 auf 57 Millionen US-Dollar und die Anzahl der Policen kletterte auf mehr als 425.000. Die App wurde außerdem bereits über 500.000 Mal heruntergeladen und kann sich mit einer Bewertung von 4,6 von 5 Sternen rühmen. Das Unternehmen befindet sich also auf dem Vormarsch. Deutschland und die Niederlande werden sicherlich nicht die letzten europäischen Länder sein, in denen sich Lemonade etabliert. Man darf auf die Entwicklung gespannt sein.

 

Foto: Getty Images / tolgart